Lübeck: Backsteinpracht und Meer
von Irene Altenmüller, NDR.de

Lübeck entkommt man nicht. Selbst wer die Stadt an der Trave nie besucht hat, kennt zumindest einen Teil seiner Wahrzeichen: das weltbekannte Marzipan. Oder die berühmte Stadtsilhouette mit den sieben Türmen, die zum Frühstück vom Marmeladenglas grüßt. Thomas Mann, der mit den Buddenbrooks dem Bürgertum der Stadt ein Denkmal setzte. Oder das Holstentor, das wohl bekannteste Stadttor Deutschlands, das mit seinen zwei mächtigen Rundtürmen jahrzehntelang die Rückseite des 50-Mark-Scheins zierte.
Hinter dem Holstentor führt eine Brücke über die Trave auf die Altstadtinsel. Die UNESCO erklärte das einzigartige Ensemble mit seinen rund 1.800 denkmalgeschützten Gebäuden, den verwinkelten Gängevierteln und historischen Gassen 1987 zum Weltkulturerbe. Imposant und bis weit ins Hinterland sichtbar ragen die Türme von St. Marien, St. Petri, St. Aegidien und des Lübecker Doms aus dem Stadtbild auf, allesamt bedeutende Kirchen der Backsteingotik.

Steinerne Märchen

Von der 50 Meter hoch gelegenen Aussichtsplattform auf dem Turm der Petrikirche kann man sich einen Überblick über die Altstadt verschaffen. Von dort schweift der Blick über ein Meer aus roten Dachziegeln und Backstein - bei schönem Wetter bis nach Travemünde und zur Ostsee. Im Zweiten Weltkrieg wurde St. Petri schwer zerstört und erst 1987 vollständig wieder aufgebaut. Seither wird die Kirche als Kulturstätte für Ausstellungen, Lesungen und Konzerte genutzt. Im Sommer finden hier regelmäßig Konzerte des Schleswig-Holstein Musik Festivals statt, dessen Organisationsbüro ebenfalls in Lübeck liegt.
Nur wenige Schritte entfernt liegt Lübecks Marktplatz mit dem Rathaus. Es gilt als eines der schönsten und ältesten Rathäuser Deutschlands und ist eigentlich ein Ensemble verschiedener Bauteile, von denen die ältesten noch aus dem 13. Jahrhundert stammen. Ein historischer Reisebericht nannte das Lübecker Rathaus einmal ein "steinernes Märchen".

Machtsymbole in Backsteinform

Macht und Selbstbewusstsein des Lübecker Bürgertums fanden ihren sichtbaren Ausdruck in der direkt neben Markt und Rathaus erbauten Marienkirche. Mit ihrem fast 40 Meter hohen Hauptschiff und den beiden 125 Meter hohen Türmen ist sie die drittgrößte Kirche Deutschlands und die erste, bei der die gotische Formensprache in Backstein statt Naturstein übersetzt wurde. Die Monumentalität von St. Marien ist kein Zufall. Die Ratskirche sollte ein sichtbares Gegengewicht zum romanischen Dom am Südzipfel der Altstadtinsel darstellen, der die Macht des Bischofs verkörperte und die Marienkirche an Länge übertrifft
Die Aegidienkirche, Kirche der Handwerker und Kämmerer, und die Jakobikirche runden das Ensemble imposanter Backsteinarchitektur ab. Als Kirche der Schiffer und Seefahrer beherbergt St. Jakobi in einer Seitenkapelle das Wrack eines Rettungsbootes des 1957 gesunkenen Segelschulschiffes "Pamir". Nur sechs der 86 Seemänner überlebten damals die Katastrophe.

Stille Hinterhof-Oasen

Trotz der geballten Ladung Backsteinpracht wirkt Lübecks Altstadt nie museal. Das verdankt die Stadt einer städtebaulichen Besonderheit, die einst aus einer Zwangslage entstanden war. Mit dem Aufstieg zur mächtigen Hansestadt nahm auch die Bevölkerung stark zu. Der Bauplatz innerhalb der Stadtmauern verknappte sich, und so entstanden auf den hinteren Teilen der Grundstücke in Höfen und Gängen schmale, niedrige Häuser für die ärmere Bevölkerung, Buden genannt. In diesen Gängevierteln, die oft nur durch niedrige Torbögen zu erreichen waren, herrschte früher drangvolle Enge. Typische Beispiele für diese Gänge finden sich rund um die Engelsgrube, die ihren Namen nicht etwa den himmlischen Heerscharen verdankt, sondern den englischen Schiffen, die am unteren Ende der Straße festmachten.
Um einiges komfortabler waren die Häuser der Stiftshöfe, die reiche Bürger für Handwerker-, Schiffer- oder Kaufmannswitwen in den Hinterhöfen einrichteten. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Füchtingshof, benannt nach einem Ratsherrn im 17. Jahrhundert. Heute sind die kleinen Häuser der Gänge und Höfe liebevoll restauriert. Viele Fassaden sind mit Efeu oder Kletterrosen bewachsen, vor den Eingängen laden Holzbänke zwischen Pflanzkübeln mit Margariten und Hortensien zum Träumen ein - stille, grüne Oasen inmitten der Stadt, romantisch und fast ein wenig verwunschen.

Großbürgerliche Pracht

Während die Gängeviertel der ärmeren Bevölkerung Quartier boten, standen die eleganten Häuser der wohlhabenden Bürger direkt an den Straßenfronten. Hier reihen sich Fassaden aus Gotik und Renaissance an barocke und klassizistische Gebäude. Das Buddenbrookhaus in der Mengstraße ist ein weiteres Beispiel großbürgerlichen Repräsentationswillens. In dem prächtigen Gebäude mit dem Rokokogiebel spielen wesentliche Teile des berühmten Romans Thomas Manns. Heute ist das Buddenbrookhaus - das übrigens nicht etwa das Geburtshaus der Brüder Mann, sondern das Haus ihrer Großeltern war - eines der meistbesuchten Literaturmuseen Deutschlands.
Eine seiner jüngsten Sehenswürdigkeiten verdankt Lübeck ebenfalls einem Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger: das Günther-Grass-Haus in der Glockengießerstraße. In dem Haus, in dem Grass auch sein Büro hat, befindet sich neben einem Archiv auch eine Sammlung von Druckgrafiken des Schriftstellers. Im Garten sind Skulpturen des ausgebildeten Bildhauers und Grafikers zu sehen.

Lebendige Kulturszene

Dass Lübeck eine höchst lebendige Großstadt mit rund 214.000 Einwohnern ist und nicht etwa ein zu Stein erstarrtes Freilichtmuseum, zeigt sich auch an seinem regen Kulturbetrieb. Klassische und moderne Konzerte finden regelmäßig in der Lübecker Musik- und Kongresshalle statt, traditionell unter anderem das Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Direkt an der Trave gegenüber der Altstadt gelegen, steht die MuK, wie sie die Einwohner nennen, für das moderne Lübeck des 21. Jahrhunderts. Entworfen hat die Halle der international bekannte Architekt Meinhardt von Gerkan, der unter anderem auch den Berliner Hauptbahnhof plante.
Eine eher maritim-nostalgische Atmosphäre bietet der Schuppen 6, ebenfalls direkt an der Trave. In dem denkmalgeschützten Hafenschuppen aus dem Jahr 1906 finden ebenfalls Konzerte des Schleswig-Holstein Musik Festivals statt. Noch unkonventioneller geht es in der Industriehalle von Huckepack-Wiek zu. Diese ist umgeben von einem großen Schrottplatz. Eine Kulisse, wie geschaffen für modernere Klänge.

"Allen zu gefallen, ist unmöglich"

Bei allem Augen- und Ohrenschmaus sollte der Magen nicht zu kurz kommen. Wer sich nicht bereits mit Lübecker Marzipan den Bauch vollgeschlagen hat, ist in der Schiffergesellschaft hervorragend aufgehoben. In dem von Kapitänen 1535 erbauten Versammlungshaus befindet sich ein Restaurant mit guter Küche und einzigartig maritimer Atmosphäre. Am Eingang fällt der Blick auf zwei Medaillons. mit der Malerei zweier Schiffe - eins im Wind, eins gegen ihn. Darunter steht die in Lübeck gern zitierte Maxime: "Allen zu gefallen, ist unmöglich". Im Inneren sitzen die Gäste an langen Bänken, Schiffsplanken dienen als Tischplatten. Von der Decke hängen hölzerne Modelle prächtiger Segelschiffe. Die eigentliche "Schiffergesellschaft", die das Restaurant verpachtet, gibt es noch heute. In sie wird aufgenommen, wer das "Kapitänspatent auf Großer Fahrt" besitzt.

Lübecks "schönste Tochter"

Kulturell und kulinarisch bestens gesättigt, kann der Besucher zum geruhsamen Teil seines Städtetrips übergehen. Nur etwa zehn Kilometer entfernt liegt Travemünde, Lübecks Badewanne und Bühne zur Ostsee. Im Hafen lohnt ein Blick auf die Viermastbark "Passat" mit ihren 56 Meter hohen Masten. Sie ist das Schwesterschiff des Unglücksseglers "Pamir". An der Strandpromenade und der parallel verlaufenden Kaiserallee reihen sich Hotels, Pensionen, Restaurants und Souvenirshops aneinander. Kaum zu übersehen und noch immer vielen Touristen und Einheimischen ein Dorn im Auge ist das 125 Meter hohe, direkt an der Promenade gelegene Maritim-Hotel, Baujahr 1974.
Am Wasser lässt es sich trefflich die müden Füße kühlen. Vom Strandkorb aus blickt man den Fähren hinterher, die in Richtung Skandinavien auslaufen - Travemünde ist einer der größten Fährhäfen Nordeuropas. Und so klingt der Besuch Lübecks und seiner "schönsten Tochter", wie Reiseführer das Ostseebad Travemünde gern nennen, ganz entspannt aus.